Inklusion oder Instrumentalisierung?

Hallo liebe Amputees, Hallo liebe Zweibeiner,

der Countdown läuft!

Am 24.8. starten die Paralympics in Tokio und das Thema wird in den Medien immer präsenter.

Dabei sind Prothesenträger anscheinend die neuen Lieblinge der Werbebranche.

Egal ob für Lebensmittelketten, Tankstellenkonzerne, Schuppenshampoo-/Kleidungs-/Schuhhersteller, Autofirmen, Banken oder Versicherungen, schicke Carbonbeine in Werbespots einzubauen liegt anscheinend im Trend.

Die meisten Akteure sind amputierte Profisportler, welche von der jeweiligen Firma gesponsert werden und Teil des Deals ein Auftritt in deren Werbung ist. Durch die diesjährigen Paralympics ist dieser Trend sicher noch verstärkt worden. Aber bei den Paralympics nehmen nicht nur Prothesenträgern teil, sondern es gibt eine große Bandbreite an körperlichen Behinderungen.

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Die 22 paralympischen Sommersportarten/ Quelle: parasport.de

Häufig werden behinderte Sportler*innen als „Opfer“ oder „Helden“ inszeniert von den Medien (z.B. „Tapfer meistert er sein Schicksal.“). Damit die Persönlichkeit und nicht die Behinderung im Fokus steht bei den Paralympics, hat Aktion Mensch zusammen mit dem Projekt Leidmedien.de und dem Deutschen Behindertensportverband eine Broschüre mit Tipps für die Medienberichterstattung veröffentlicht. Diese soll helfen z. B. Interviews mit den Athleten zu führen ohne sprachliche Diskriminierung.

Medien beeinflussen das Bild, dass die Gesellschaft von Menschen mit Behinderung hat. Sie sollten informieren und Gemeinsamkeiten aufzeigen, statt Vorurteile zu prägen. Ich hoffe viele Medienschaffende nehmen sich die Anregungen aus der Broschüre zu Herzen.

Ein positives Beispiel ist für mich die neue Kampagne WeThe15, wie man Aufklärungsarbeit leisten kann ohne die Menschen zu stigmatisieren. WeThe15 soll die größte Menschenrechtsbewegung aller Zeiten werden, um die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beenden und das Leben der 1,2 Milliarden Menschen mit einer Behinderung zu verbessern.

Zum ersten Mal haben sich dafür große Sport-Dachorganisationen verbündet: das Internationale Paralympische Komitee, die Special Olympics, die Invictus Games Foundation für kriegsversehrte Soldatinnen und Soldaten und das Internationale Komitee des Gehörlosensports.

Ein Film aus dem letzten Jahr glorifiziert dagegen Sportler mit Behinderung. Die Netflix-Doku „Rising Phoenix“ zeigt paralympische Athleten als Helden. Das ist sicher den sportlichen Leistungen angemessen, sie verklärt allerdings den Alltag vieler Menschen mit Behinderung.

Sehr interessant finde ich allerdings, dass über die Entstehungsgeschichte der Paralympics und dem Begründer Ludwig Guttmann berichtet wird. Er war Facharzt für Neurologie, erhielt als jüdischer Arzt in der NS-Zeit Berufsverbots und wanderte nach England aus. Dort kümmerte er sich um Kriegsversehrte und baute die erste Spezialklinik für Menschen mit Wirbelsäulenverletzungen auf.

Zum Start der Paralympics gibt es die Dokumentation, exklusiv bis zum 5.9.21 auf youtube, für jeden kostenlos anzusehen. Also macht euch gern euer eigenes Bild davon. Das Video habe ich euch nachfolgend verlinkt:

Sind Amputees die neuen Superhelden?

Bladerunner oder Bladejumper mit Sportprothesen haben den Prothesenträgern ein cooles Image verpasst. Viele Prothesenträger haben große Schwierigkeiten damit sich selbst als Mensch mit Behinderung zu bezeichnen. Was sagt das über uns aus? „Behindert sind höchstens die Anderen, aber ich nicht!?“

Behindert zu sein bedeutet in unserem Land in vielerlei Hinsicht immer noch Mensch zweiter Klasse zu sein und wer sagt das schon gern über sich selbst?

Denn dass man als Mensch mit Behinderung durch mangelnde Nachteilsausgleiche, Streit mit den Versicherungen, fehlender Barrierefreiheit etc. bei der uneingeschränkten Teilhabe in allen Lebensbereichen behindert wird, darin sind wir uns Alle einig oder?

Nichtbetroffenen Menschen wird gezeigt, dass man die Prothese einfach nur anziehen muss und schon ist man gar nicht mehr behindert.

Die vielen Stunden die man als amputierter Mensch z. B. bei seinem Orthopädietechniker sitzt, weil die Prothesen drücken, quietschen, die Passteile kaputt sind, der Prothesenschaft nicht mehr passt etc., diese verlorene Lebenszeit bekommt Keiner von uns in irgendeiner Art und Weise ersetzt!

Auch die vielen Gedanken die man sich machen muss, ob man das ganze Equipment dabei hat, wenn man zum Beispiel in den Urlaub fliegt, jedes Mal am Flughafen kontrolliert zu werden aufgrund der Prothesen, regelmäßig Arztrezepte einzuholen, zusätzliche Kosten die mir durch meine Behinderung entstehen….das sind nur ein paar Insights die mich in meinem Leben behindern.

Aber all das nehme ich gerne in Kauf, denn die Prothesen geben mir viele Freiheiten, die ich ohne sie nicht hätte. Ohne mein eigenes Zutun bewegen sie sich aber keinen Millimeter und würden in der Ecke verstauben.

Quelle: pexels

Schlagzeilen macht dieser Tage Markus Rehm, der bereits 2016 bei den Spielen in Rio de Janeiro sowohl bei der Olympiade, als auch bei den Paralympics antreten wollte. Auch dieses Jahr hat er den Doppelstart beantragt, doch die Teilnahme bei der Olympiade wurde ihm wieder verweigert. Bis heute konnte ihm jedoch kein Vorteil durch die Sportprothese nachgewiesen werden.

Der Verdacht steht im Raum, dass Rehm einfach zu weit springt und die Olympia-Springer nicht vorgeführt werden sollten. Dabei wollte Rehm gar nicht an die Medaillen, sondern plante außer Konkurrenz beim olympischen Wettkampf anzutreten.

Rehm beklagt eine Art Doppelmoral beim IOC. „Man lässt Prothesenträger die Nation ins Stadion führen, schön mit kurzer Hose, damit man die Prothese sieht. Man lässt Rollstuhlfahrer das olympische Feuer tragen. Man nutzt das schöne Image aus, das einem paralympische Athleten geben“, sagt er: „Wenn es aber darum geht, dieses Image zu leben, scheint es zu viel des Guten zu sein. Dann ist es vorbei mit der Inklusion. Vor allem, wenn der Athlet, der das schöne Image geben könnte, genauso gut ist wie die olympischen Athleten.“

Quelle: Süddeutsche Zeitung

Wollt ihr Inspoporn oder kann das weg?

Für mich persönlich stellt sich manchmal das Gefühl ein, dass ich für den Teil der behinderten Gesellschaft nicht behindert genug bin und für die Mehrheitsgesellschaft zu behindert.

Aus Sicht von Menschen die ihre Behinderung von Geburt an haben und schon immer für ihre Rechte kämpfen mussten, bin ich in einer privilegierten Situation. Ich konnte meine Schule, Ausbildung und Studium abschließen, ohne dass ich aufgrund einer Behinderung dabei behindert wurde.

Auch meinen Einstieg in den Beruf, die Welt zu erkunden inklusive eines Auslandsjahres in Australien, Festival-, Konzert- und Kinobesuche, die freie Entscheidung wann ich wo mit wem leben wollte uvm. habe ich als selbstverständlich und nie als Privileg empfunden.

Als ich meine Beine im Alter von 30 Jahren amputiert bekommen habe, habe ich begriffen, dass das Alles gar nicht so selbstverständlich ist. Seit Corona und den dazugehörigen Maßnahmen haben wir Alle eine Idee davon, was es bedeutet sich von Ereignissen die außerhalb unseres Einflussbereiches liegen die Grenzen in unserem Leben aufzeigen zu lassen.

Könnte die Coronazeit dafür sorgen, mehr Verständnis füreinander zu entwickeln?

Oder reicht es uns Leute mit Prothesen in den Medien laufen, springen und klettern zu sehen und uns das als Inklusion verkaufen zu lassen?

Quelle: pexels

Inklusion muss Nichtbehinderte mit einbeziehen

Aus Sicht des Inklusionsgedankens, sollte es nicht völlig egal sein, ob Jemand mit Behinderung geboren wurde oder diese erst später Teil des Lebens wurde?

Entscheidend ist doch der gemeinsame Kampf für mehr Teilhabe, denn nur wenn wir uns miteinander solidarisieren, werden die Veränderungen in unserem Land passieren, von denen wir Alle profitieren.

Hätte ich mich mit dem Thema Inklusion beschäftigt, wenn ich selber keine Behinderung hätte?

Möglicherweise ja, aber sicher nicht in dem Umfang in dem ich es heute als Betroffene tue. Ich kann es total nachvollziehen, dass es soviel leichtere Themen gibt mit denen man sich beschäftigen kann. Denn das Thema ist sehr vielschichtig, nicht leicht zu verstehen und ist von Ableismus geprägt. Ableismus zeigt sich oft schon in unserer alltäglichen Sprache. Wie du über Jemanden sprichst oder ihn beschreibst, damit schreibst du dieser Person automatisch einen Wert zu.

Dabei offenbaren sich häufig (unbewusste) Vorurteile. Zudem kann es sein, dass man Begriffe wie z. B. „behindert“, „Spast“, „Mongo“ als stigmatisierendes Merkmal verwendet. Dies kann bei Betroffenen zu internalisiertem Ableismus führen. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung diese Stigmatisierung verinnerlichen.

Brauchen wir ein neues Wort für Menschen mit Behinderung oder ist es möglich dem Wort „Behinderung“ den negativen Beigeschmack endlich zu nehmen?

Quelle: Leidmedien

Schluss mit (positiver) Diskriminierung

Ich wünsche mir von der Mehrheitsgesellschaft die Bereitschaft dazuzulernen und von der Behindertencommunity den erhobenen Zeigefinger runterzunehmen.

Niemand wird gern belehrt und wir müssen dahin kommen, dass behinderte Menschen weder Superhelden, noch Krüppel sind, Behinderung nicht gut oder schlecht ist, sondern ein Teil unserer diversen Gesellschaft!

Daher bin ich eine Befürworterin des Disability Mainstreaming. Das heißt, dass Inklusion und Menschen mit Behinderung allgemein mitgedacht werden sollen und kein separates Thema sind.

Wie ist deine Meinung dazu?

Zum Abschluss verlinke ich euch den aktuellen Werbespot des Teams Deutschland Paralympics, der Titelsong wird von Rammstein beigesteuert. 134 Athletinnen und Athleten sind vom Deutschen Behindertensportverband für die Paralympics in Tokio nominiert worden und starten ab morgen bei den Wettkämpfen, welche Großteiles auf ARD und ZDF übertragen werden.

Ich wünsch euch viel Spaß und super Momente bei den Paralympics mit Team Deutschland #meinweg!

5 Kommentare zu „Inklusion oder Instrumentalisierung?

  1. Eine Möglichkeit wäre, z.B. Amputierte bei der Prothesenanpassung filmisch zu begleiten. Mache immer wieder die Erfahrung, dass die meisten Menschen überhaupt keine Vorstellung von Prothesen haben, oftmals noch nie eine Amputation, geschweige denn eine Prothese gesehen haben. Oder aber gehörlose oder blinde Menschen im Alltag zu begleiten.
    Als Mensch mit Behinderung kann ich dazu beitragen, indem ich möglichst offen mit meiner Behinderung umgehe und Menschen informiere, wenn Interesse besteht. Ausserdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass (noch kleine)Kinder sehr unbefangen und vorurteilsfrei miteinander umgehen und in der Interaktion immer Wege finden, miteinander zu spielen und zu kommunizieren, egal welche Einschränkung oder Besonderheit der Spielkamerad mit sich bringt. ME. wäre es also durchaus sinnvoll, zumindest inklusive Kindergärten zu fördern.

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  2. Toll geschriebener Artikel, der viele Aspekte berücksichtigt. Danke (insbesondere auch für den Absatz:“…, dass ich für den Teil der behinderten Gesellschaft nicht behindert genug bin und für die Mehrheitsgesellschaft zu behindert“.) Trifft mein Empfinden ziemlich genau 🙂 !

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  3. Inklusion sollte schon bei den Kindern anfangen, damit sie damit gross werden. Diskriminierung lernt man ja über die Eltern.
    Ich selber bin Leuten groß geworden die eine Behinderung haben, war mir immer egal, da sie auch Menschen sind. Meine beste Freundin, leider schon verstorben, saß im Rollstuhl und hatte MS. Sie hat alles mit gemacht. Ich selbst bin seit 10.2015 Amputiert und werde immer wieder diskriminiert, nur weil ich nicht mehr alles das kann, was ich vorher konnte.
    Es ist zwar auch nicht schlecht, das die Medien das nun endlich mal mit aufnehmen, aber überzreiben müssen sie auch nicht. Man sollte aber auch mal die Bürger mit einbeziehen, die nicht gerade Sportler sind. Es gibt auch Behinderte die mehr Probleme haben als man denkt, die sollte man auch mal fragen. Es ist eine zwei Klassen Wirtschaft, die Pesonen die gefördert werden, z.B. Sportler, aber was ist mit denen, die von der Krankenkasse oder BG abhängig sind und auch da werden unterschiede gemacht. Man sollte allen helfen und das best möglich draus machen und nicht immer nur an das liebe Geld denken. Aber so ist es leider. Sorry aber alle sollten da mal drüber nachdenken.

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